Mach es Dir bequem. Ich lade Dich ein die Augen zu schliessen. Stell Dir vor, Du bist eingeschlafen und wachst auf in einer Zeit vor 3000 Jahren.
Es hat kein Wecker geläutet, es ist das Licht gewesen, dass den Raum erhellt hat und Dir das Signal gegeben hat zu erwachen.
Du hast keine Lampe, keine Heizung. Draussen ist es kalt. Vielleicht liegt gerade Schnee. Du hast jetzt keine Felder zu bestellen, es gibt auch kaum etwas essbares im Wald zu sammeln, der Boden ist gefroren.
Wer bis jetzt keine Vorräte gesammelt hat wird es nicht über den Winter schaffen. Aber Du hast die fruchtbare Zeit des Jahres gut genutzt und genug Vorräte zum Essen zum Beginn der Winterzeit sichergestellt und auch genug Holz gesammelt und getrocknet um heizen zu können. Es geht Dir gut, gerade herrscht kein Krieg im Land, die Menschen in Deiner Umgebung kommen gut miteinander aus – so gut es eben geht.
Was tust Du da jetzt so den ganzen Tag, jetzt in dieser Zeit? Du hast viel Zeit – Zeit zu beobachten.
Du kleidest Dich mit allem was Du hast, eine Kombination von handgewobenen Stoffen aus Leinen und Fellen, und gehst ins Freie.
Du weißt genau über welchem Hügel jeden Morgen die Sonne aufgeht, wo sie ihren Höhepunkt erreichen wird und wo sie wieder untergehen wird heute abend. Jeder und jede einzelne in deiner Gemeinschaft kennt den Lauf genau und weiss, dass dieser sich jetzt immer weiter senkt, der Tag immer kürzer wird und die Sonne immer früher untergeht.
Bis zum heutigen Tag, dem Tag der Wintersonnenwende, dem kürzesten Tag des Jahres, der längsten Nacht des Jahres. Die erste Rauhnacht.
Wenn sich die Sonne wendet, beginnt der Lauf der Sonne wieder anzusteigen. Ab dem heutigen Tag wird jeder Tag wieder länger. Ab dem heutigen Tag wird die Sonne immer ein Stückchen weiter links am Horizont erscheinen, ihr Lauf etwas weiter nach oben ziehen und sie wird immer ein Stückchen weiter rechts hinter dem Hügel untergehen.
Es ist ein Festtag. Denn dieser Tag, an dem sich so eine große Veränderung im für Dich sichtbaren Lauf der Gestirne vollzieht, prägt Dich, prägt deine Gemeinschaft, prägt die Zeiten, prägt den ewig sich wiederkehrenden und wieder erneuernden Kreislauf Deiner Welt.
So haben Menschen auf der ganzen Welt, in allen Traditionen gelebt. Mit der Beobachtung von Sonne – aber auch Mond und Sterne. Und die markantesten Punkte – der kürzeste Tag der Wintersonnenwende im Dezember, aber auch der längste Tag, der Sommersonnenwende im Juni – wurden in allen Traditionen als wichtige Tage im Jahreskreis wahrgenommen.
Vieles hat sich seit dieser Zeit verändert.
Wir haben Strom, der uns Licht schenkt, verschiedenste Energieformen, die unsere Behausung heizen und zu tun ist immer etwas. Kaum ein Tag der sich nicht von allein mit Aufgaben und Tätigkeiten gefüllt wenn die kostbar gewordene Zeit nicht aktiv verteidigt wird.
Zeit, das von dem wir früher soviel im Überfluss hatten ist unser neuer Luxus.
Vor allem wenn es dunkel wird. Stell Dir vor, es gibt nichts zu tun, wenn es dunkel wird. Was machst Du da, wenn es früher dunkel wird? Es gibt kein Internet, keinen Fernseher, kein Radio, nicht einmal Bücher, auch Papier und Stifte oder Farbe zum schreiben oder malen gibt es nicht.
Wenn es früher dunkel wird, erzählen wir und lauschen wir. Darüber was am Tag geschah, darüber was irgendwann einmal geschah. Die guten Geschichten werden weitergegeben und werden zu Mythen. Aus dieser Zeit kommen die Rauhnächte.
Der Mensch tat das gleiche das die Pflanze im Freien heute noch tut. Pflanzen ziehen sich mit Beginn des Kälterwerdens und mit den kürzer werdenden Tagen zurück. Für uns ist nur sichtbar, dass sie nicht mehr blühen, keine Früchte tragen. Es sieht fast so aus, als wären sie tot – hätten keine Kraft mehr. Aber das ist nicht richtig – denn der Vorgang ist für unser Auge unsichtbar. Der Bauer und der Gärtner, sie wissen um die verborgene Kraft, die sich ins Innere zurückzieht, in die Wurzel, in die Dunkelheit, in die Tiefe der Erde.
Wie die Pflanze sind auch wir ein organisches Lebewesen, das gut tut die Zeit der Kälte und der Dunkelheit zu nutzen für Einkehr ins Innerste. Dabei unterstützt uns das bewusste Erleben der Rauhnächte.
Wir schöpfen in dieser Phase die Kraft, die uns im Frühling neue Sprossen treiben lässt und im Spätsommer die reife Ernte bringt. Ohne diesem Kräftesammeln, wie soll die Pflanze da im kommenden Jahr gedeihen?
Das Leben ist nicht linear und the only way is not up. Das Leben folgt – wie unsere Vorfahren wussten – dem Kreislauf. Den Kreislauf bewusst wahrnehmen ist der erste Schritt ihn geniessen zu lernen. Das Fallen der Blätter, das kürzer Werden der Nächte wahrzunehmen als Zeichen für Rückzug, Einkehr und Ruhe.
Das bedeutet nicht, dass in dieser Zeit nichts passiert. Wie jeden Tag wenn wir schlafen gehen und uns diese wichtige tägliche Ruhe gönnen um so im Schlaf das Erlebte und Gelernte des Tages zu verarbeiten. Dieser wichtige Schlaf während dem unsere Hirnwellen alles sortieren und ordnen um uns am kommenden Tag ausgeschlafen ein Stück klüger, weiter, erfahrener erwachen zu lassen für den nächsten Tag.
So ist der Winter, die dunkle Jahreszeit eine Art von Schlaf von der Welt draussen – in uns drinnen passiert unheimlich viel. Wir verarbeiten, wir ordnen, wir stellen uns gut auf – für das morgen des neuen Zyklus.
Wenn die Alten davon sprechen, dass „während der Rauhnächte die Tore zur Anderswelt offen sind“ – dann ist das für mich das Bild für diese Art des Schlafes. In der „Anderswelt“, in unserer „Traumwelt“ jede Nacht wenn wir die Augen schliessen, spüren wir mehr und denken weniger. Unsere Emotionen und Gefühle übernehmen, der Verstand ist nicht mehr Herrscher. In der Früh wundern wir uns dann über unsere Träume, die Geschichten die wir erlebt haben.
Was da passiert, im Schlaf, im Traum – ist essentiell für unser gesund sein und gesund bleiben. Sehen wir unseren Schlaf als das größte Heilmittel für unseren Körper – Servicewerkstätte für die Aufs- und Abs unseres Lebens. Die Rauhnächte können das auf der Ebene des Jahres leisten. Indem wir in die Stille gehen, einkehren zu uns, uns jeden Tag dafür eine Stunde schenken.